Nach den Anschlägen von Paris:
Wie Europas Politik den Terror für sich instrumentalisiert
Von Ernst Wolff
20.11.2015
Seit den Attentaten von Paris überschlägt sich die politische Elite in Europa in blindem Aktionismus. Nicht, dass sie auch nur eine Sekunde innegehalten und sich Zeit genommen hätte, über die Hintergründe der Terroranschläge nachzudenken, ihre tieferen Ursachen zu analysieren oder gar eine Strategie zu entwickeln, um weiteren Anschlägen auf die eigene Bevölkerung durch eine Deeskalation vorzubeugen.
Nein, ganz im Gegenteil: Frankreich bombardiert den souveränen Staat Syrien mit noch größerer Intensität und setzt auch im Landesinneren auf eine Verschärfung der Gesetze und die Ausweitung staatlicher Gewalt. Die Regierungen der übrigen Euroländer haben keine Sekunde gezögert, sich dieser Strategie umgehend anzuschließen, ebenfalls demokratische Rechte einzuschränken und die Aufrüstung von Militär und Polizei anzukündigen.
Die Folge: Der Terrorismus wird nicht eingedämmt, sondern nach Kräften gefördert. Die Gegenseite wird zu noch schlimmerer Gewalt provoziert, es werden in Zukunft weitere unschuldige Opfer sterben. Warum aber handeln die Regierungen auf eine derart unverantwortliche Art und Weise?
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen:
Durch die Bekämpfung eines äußeren Feindes lässt sich hervorragend von der eigenen Verantwortung für die bestehenden Verhältnisse ablenken. Europa befindet sich seit 2008 in immer größeren wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten, die derzeit durch die Flüchtlingskrise, die weltweite Rezession und die Rückkehr der Eurokrise verschärft werden. Keines der seit 2008 bestehenden Probleme ist gelöst oder auch nur ernsthaft in Angriff genommen, kein Versprechen gehalten worden (u.a. die Eindämmung der Spekulation, die Regulierung der Finanzmärkte oder die Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit). In dieser Situation kommt der Politik der Kampf gegen den islamistischen Terror als Ablenkungsmanöver von den eigenen Versäumnissen sehr gelegen.
Außerdem dienen die Maßnahmen gegen den IS der Vorbereitung auf größere soziale Konflikte im Inneren. Insbesondere Frankreich steht wegen der Eurokrise unter zunehmendem wirtschaftlichem Druck. Um seine Konkurrenzfähigkeit am Weltmarkt zu erhöhen, muss das Land demnächst Sozialleistungen einschränken, die Arbeitsgesetze verschärfen und das Lohnniveau senken (In Deutschland bereits durch die Agenda 2010 geschehen). All diese Maßnahmen werden wegen der schon bestehenden sozialen Ungleichheit im Lande erheblichen sozialen Widerstand hervorrufen, der dann unter Zuhilfenahme der jetzt beschlossenen Einschränkungen des Versammlungsrechts, der erweiterten Überwachung des Internets und der Ausweitung polizeilicher und militärischer Befugnisse unterdrückt werden kann.
Auch die übrigen Länder der Eurozone stehen vor gewaltigen sozialen Problemen: Die jüngsten Massendemonstrationen in Griechenland sind nur der Auftakt zu einer neuen Welle des Protests. Die in Athen beschlossene Erleichterung von Zwangsräumungen, die weitere Kürzung der Renten und Sozialleistungen, sowie erneute Steuererhöhungen werden in den kommenden Monaten zu noch größeren und heftigeren Protesten führen und geben einen Vorgeschmack auf die Entwicklung in den anderen südlichen Ländern der Eurozone.
Zudem erzeugt die Politik derzeit in Gemeinschaft mit den Mainstreammedien ganz bewusst ein Klima der Hysterie und schafft mit dem IS einen Sündenbock, der ihr hilft, die Wut und die Verzweiflung bildungsferner Schichten in der Bevölkerung zu kanalisieren. Viele Menschen am unteren Rand der Gesellschaft sind nicht in der Lage, politische oder wirtschaftliche Zusammenhänge zu durchschauen und schon gar nicht fähig, kritisch zu differenzieren. Da sie aber am eigenen Leib spüren, wie es sich anfühlt, zu den Verlierern unserer Gesellschaft zählen, greifen sie gern auf griffige Konzepte zurück und vermengen diese mit einem – durch die eigene soziale Benachteiligung entstandenen – Fremdenhass.
Die von Politik und Medien erzeugte Hysterie sorgt dafür, dass sich die Wut dieser Menschen nicht gegen die eigentlichen Verursacher ihrer Misere – die Politik und die Finanzindustrie – richtet, sondern gegen das fremde „Böse“. Dadurch entsteht auch ein gesellschaftliches Klima, das nationalistische und rechtsextreme Organisationen begünstigt und politischen Brandstiftern den Weg bereitet. (Ein Beispiel: Marine Le Pen, Vorsitzende des rechtsradikalen französischen Front National, sagte nach den Attentaten von Paris, Frankreich müsse sich wieder bewaffnen, seine Grenzen permanent kontrollieren, Muslimen den Pass entziehen, und den radikalen Islam „auslöschen“.)
Schließlich werden die Terroranschläge von den Regierungen auch noch dazu benutzt, um schwindende Wirtschafts- und Finanzmacht durch die Erhöhung der militärischen Schlagkraft auszugleichen. Ziel ist es, sich angesichts der globalen Rezession und schrumpfender Weltmärkte für den Kampf um Ressourcen und die Besetzung geostrategischer Positionen in Stellung zu bringen. Frankreich hat sein militärisches Engagement in Syrien unmittelbar nach den Anschlägen drastisch ausgeweitet.
Die deutsche Regierung, die Ende der Neunziger Jahre im ehemaligen Jugoslawien zum ersten Mal seit der Gründung der Bundesrepublik an einem Krieg teilgenommen hat, ist seit einiger Zeit bemüht, das Mittel des Krieges – das wegen der historischen Erfahrungen der Bevölkerung lange Zeit verpönt war – wieder salonfähig zu machen. Hierbei dient der IS als willkommener Vorwand für die Aufrüstung der Bundeswehr, - ein Vorgehen, das letzten Umfragen zufolge noch immer von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird.
Von welcher Seite man es auch betrachtet: Keine einzige der Maßnahmen, die derzeit ergriffen werden, wird die Terrorgefahr verringern. Die meisten werden aber den Terror nicht nur begünstigen, sondern die Spirale der Gewalt zusätzlich anheizen, in den bevorstehenden sozialen Auseinandersetzungen verheerende Folgen für die arbeitende Bevölkerung haben und darüber hinaus dafür sorgen, dass eine friedliche Welt in noch weitere Ferne rückt.
- E N D E –