Griechenland – die tickende Zeitbombe
Griechenland – die tickende Zeitbombe
Von Ernst Wolff
24.04.1015
Zwei Monate nach dem Wahlsieg des Bündnisses Syriza treibt Griechenland weiter ins Ungewisse. Die Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und EU-Kommission ist bis heute keinen Millimeter von ihrer kompromisslosen Linie abgewichen. Sie fordert nach wie vor, dass die arbeitende griechische Bevölkerung für die Schäden aufkommt, die skrupellose Banker und ihre nicht minder skrupellosen politischen Verbündeten angerichtet haben.
Die vergangenen acht Wochen haben aber auch gezeigt: Der Syriza-Flügel unter Alexis Tsipras, der die neue Regierung bildet, hat dieser Kampfansage nichts entgegen zu setzen. Obwohl er seinen Wählern vor dem 25. Januar ein Ende der Austerität angekündigt hatte, hat Tsipras sein Versprechen bis heute nicht eingelöst. Im Gegenteil: Seine Regierung betont bei jeder Gelegenheit, sich der Troika unterordnen zu wollen und hat inzwischen sogar begonnen, Gelder von Pensionsfonds, staatlichen Institutionen und öffentlich-rechtlichen Betrieben einzutreiben, um damit Staatsschulden zu begleichen.
Für die arbeitende Bevölkerung in Griechenland ist die entstandene Situation mehr als ernüchternd: Ihr Gegner, die Troika, hat ihr den Krieg erklärt und ihr vermeintlicher Verbündeter, die Regierung Tsipras – Varoufakis, schaut nicht nur zu, sondern fällt ihr auch noch in den Rücken. Kein Wunder, dass sich Protestaktionen und Streiks häufen und die Regierung in öffentlichen Meinungsumfragen weit hinter ihre früheren Werte zurückfällt.
Trotz dieser kritischen Entwicklung sind die Probleme in Griechenland nur ein kleiner Teil eines weitaus größeren Problems. Dessen Ausmaß lässt sich erahnen, wenn man sich die Zahlen ansieht, die der IWF auf seiner Jahrestagung in Washington vorgelegt hat: Die Banken der Eurozone sitzen derzeit auf faulen Krediten in Höhe von 900 Mrd. Euro, von denen zwei Drittel auf Banken in Italien, Spanien, Irland, Zypern und Griechenland entfallen. Das heißt, ein Großteil der Banken in diesen Ländern ist bankrott und wird nur durch (inzwischen zu diesem Zweck eingeführte) Bilanzfälschung am Leben erhalten.
Dazu kommt, dass die Euro-Wirtschaft stagniert und in eine Rezession abzugleiten droht, während deflationäre Tendenzen sich trotz massiver Geldspritzen durch die EZB halten. Inflationäre Tendenzen dagegen zeigen sich an den Anleihemärkten, den Börsen und am Immobiliensektor, wo sich riesige Blasen gebildet haben, die jederzeit platzen können.
Eine besonders wichtige Informationen des IWF findet sich in seinem Global Financial Stability Report. Dort liest man: „Die Risiken im globalen Finanzsystem sind seit Oktober gestiegen und haben sich in Teile des Finanzsystems bewegt, wo sie schwerer einzuschätzen und schwieriger zu behandeln sind.“
Dies ist nichts als eine überaus beschönigende Formulierung der Tatsache, dass das Schattenbankensystem trotz aller anderslautenden Beteuerungen von Politikern nicht kleiner, sondern größer geworden ist. Anders ausgedrückt: Auf dem unregulierten Markt der Finanzprodukte wird mit unverminderter Hemmungslosigkeit spekuliert.
Um die Größenordnung dieser Spekulation zu verdeutlichen, hier ein Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands (die Summe aller produzierten Waren und erbrachten Dienstleistungen) betrug im Jahr 2014 2,9 Billionen Euro, das der gesamten Eurozone 9,9 Billionen Euro. Der Derivatebestand der Deutschen Bank (Derivate sind Finanzprodukte, die mit der Realwirtschaft nichts zu tun haben, vereinfacht ausgedrückt: Finanzwetten) belief sich im selben Zeitraum auf knapp 50 Billionen Euro.
Im Klartext bedeuten all diese Zahlen: Die Eurozone ist seit der Krise von 2007 / 2008 nicht sicherer, sondern erheblich unsicherer geworden. Die Mittel, die zur Rettung des Systems eingesetzt wurden, sind so gut wie erschöpft. Und das Roulettespiel auf dem Markt der Derivate hat nicht nur zugenommen, sondern inzwischen ein Ausmaß erreicht, das nicht mehr zu beherrschen ist.
Hier liegt auch der Grund, weshalb Griechenland nicht fallen gelassen, sondern trotz ständig gegenteiliger Beteuerungen immer wieder durch neue Kredite vor dem Zusammenbruch gerettet wird: Ein Staatsbankrott würde nicht nur bedeuten, dass europäische Banken mehr als eine Viertel-Billion Euro an Krediten abschreiben müssten und die Europäische Zentralbank Staatsanleihen in Höhe eines dreistelligen Milliardenbetrags für wertlos erklären müsste. Er würde auch dazu führen, dass Kreditausfallversicherungen in Billionenhöhe fällig würden.
Da dieser Markt nicht reguliert ist, kann niemand sagen, zwischen welchen Parteien diese im Einzelnen abgeschlossen wurden. Es ist aber davon auszugehen, dass neben der Deutschen Bank in erster Linie die sechs größten US-Banken betroffen sind, die in diesem Bereich den globalen Markt beherrschen. Es ist also auch für die Wall Street und die US-Regierung zwingend notwendig, Griechenland und die gesamte Eurozone nicht zusammenbrechen zu lassen.
Hier aber liegt der Kern des Problems: Das gegenwärtige Finanzsystem ist im Grunde eine toter Organismus, der nur künstlich am Leben erhalten wird, weil alle Beteiligten fürchten, im Fall eines Crashs zu den Verlierern zu gehören. Die Situation gleicht einer Fahrt in einem luftgekühlten Auto, dessen Motor überhitzt ist und dessen Fahrer versucht, ihn durch immer schnelleres Fahren zu kühlen. So wie der Motor in diesem Beispiel irgendwann explodieren muss, werden auch die Eurozone und mit ihr das globale Finanzsystem auseinanderfliegen. Die Frage ist gegenwärtig nur, was den finalen Crash auslösen und was sich möglicherweise noch vor seinem Eintreten ereignen wird.
Hier allerdings muss man auf zwei Entwicklungen hinweisen, die für die Zukunft entscheidend sein werden: Zum einen die weltweite Aufrüstung, zum anderen das Bevorstehen schwerer sozialer Unruhen.
Zwei Weltkriege haben bewiesen, dass Staaten in Zeiten höchster Not nicht davor zurückschrecken, zu den Waffen zu greifen: Kriege kurbeln die Wirtschaft an, schaffen Arbeitsplätze, sorgen durch Zerstörung für neue Investitionsmöglichkeiten, lenken die Bevölkerung von den wahren Schuldigen an ihrer Misere ab und vereinen sie im Kampf gegen einen äußeren Feind. Die auf Russland abzielende Dämonisierungskampagne der USA gegen Wladimir Putin, die gegen China gerichtete Politik des „pivot to Asia“, Frankreichs Feldzüge in Afrika und auch das neue Erwachen des deutschen Militarismus dienen genau diesem Zweck.
Der Aufrüstung nach außen entspricht eine Aufrüstung nach innen. Die Finanzindustrie und die ihr hörigen Regierungen sind fest entschlossen, das bestehende System bis zum letzten Atemzug am Leben zu erhalten, aber alle Beteiligten wissen genau, dass das nur über weitere Austeritätsrunden, eine zunehmende Senkung des Lebensstandards bis hin zur völligen Verarmung großer Bevölkerungsteile zu erreichen ist. Also bereiten sie sich durch den Ruf nach „Law and Order“, durch die Militarisierung der Polizei, die Schaffung neuer Einheiten (die angeblich vor terroristischen Gefahren schützen sollen) und durch Notfallpläne für Volksaufstände ganz bewusst auf soziale Unruhen vor.
Hierbei wird Griechenland als tickende Zeitbombe eine ganz wesentliche Rolle spielen. Das Land hat der Troika bei der Durchsetzung von sechs Austeritätsprogrammen bereits als Labor gedient, in dem die Reaktion der Bevölkerung auf immer brutalere Sparmaßnahmen getestet wurde. Diese Rolle soll das Land auch weiterhin spielen: Die Regierung Tsipras wird in der vor uns liegenden Phase von der Troika mit eiserner Härte gezwungen werden, von all ihren Wahlversprechen abzurücken und die Politik der Vorgängerregierungen fortzusetzen.
Das allerdings wird Syriza in einen schweren Konflikt mit denen führen, die sie gewählt haben. Die Anfänge dieses Konfliktes sehen wir zurzeit: Erste Protestaktionen, erste Streiks und die Räumung der Athener Uni sind nur vereinzelte Anzeichen der zukünftigen Entwicklungen. Mit jeder Maßnahme, mit der sich die Regierung Tsipras der Troika weiter beugt, wird die Wut in der Bevölkerung wachsen, bis sie sich am Ende in gewaltigen sozialen Ausbrüchen entladen wird.
Wer wissen will, wie die herrschenden Kräfte dann reagieren, sollte sich das Schicksal des Arabischen Frühlings, insbesondere das Ägyptens, ins Gedächtnis rufen. Dort reagierten die Mächtigen nach den Protesten auf dem Tahrir-Platz zunächst zögerlich, dann mit einigen Zugeständnissen. Als es allerdings ernst wurde, schlug ihre Stimmung um: Sie ließen sämtliche Proteste mit brutaler Gewalt unterdrückten und setzten schlussendlich auf das Militär, das seitdem ein diktatorisches Regiment führt.
Wer nicht glaubt, dass eine Wiederholung dieser Ereignisse in Griechenland droht, der sei an die Militärdiktatur des Landes von 1967 bis 1974 erinnert. Und wer nicht glaubt, dass die internationale Finanzindustrie mit der Errichtung einer solchen Diktatur höchst einverstanden wäre, dem sei ein Artikel der Financial Times vom Januar 2015 empfohlen, in dem das Sprachrohr des internationalen Finanzkapitals der Welt mitteilte: Das für internationale Investoren attraktivste Land im Jahr 2014 war das seit Sommer 2013 vom Militär beherrschte Ägypten.
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