netzwerkB Pressemitteilung vom 3. Februar 2014
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Staaten haften auch für
unterlassene Hilfe bei Missbrauchsfällen in kirchlichen und privaten
Einrichtungen
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EuGMR) in Straßburg
verurteilte in der letzten Woche in dem Fall O`Keeffe gegen Irland den
irischen Staat zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 30.000 Euro
an eine heute 50-jährige Irin, welche als Neunjährige 1973 durch den
Direktor ihrer Schule mehrfach sexuell missbraucht wurde.
Das Urteil verpflichtet den irischen Staat zwar nicht zur Änderung oder
zum Erlass von Gesetzen und entfaltet auch keine unmittelbare Wirkung in
anderen bzw. für andere Staaten.
Dennoch ist das Urteil als äußerst beachtlicher Schritt des Gerichtshofs
zu werten.
Hintergrund des Urteils ist insbesondere die Tatsache, dass es bereits vor
den durch die Klägerin erlittenen Missbrauchsfällen Beschwerden und
Anzeigen der Mutter eines anderen Kindes aufgrund sexueller Übergriffe an
der Schule gegeben hatte, es jedoch weder zu einem Ermittlungsverfahren,
noch zum Ergreifen von Schutzmaßnahmen gekommen war.
Der für die Schulaufsicht zuständige katholische Geistliche hatte der
Mutter des Kindes lediglich geraten, dass das Mädchen künftig Hosen statt
Kleider tragen solle.
In den innerstaatlichen Vorinstanzen in Irland wies – wie auch in anderen
Ländern nahezu typisch – der Staat die Verantwortung für das Leid der
Klägerin und zahlreicher weiterer ehemaliger Schüler mit dem Argument von
sich, dass die betroffenen Schulen von der katholischen Kirche verwaltet
wurden und nicht vom Staat selbst. In den Schulalltag mische sich der Staat
nicht ein.
Besonders perfide erscheint in diesem Zusammenhang, dass sowohl der
Klägerin als auch über einhundert weiteren Klägern nach der Abweisung
der Klage durch den irischen Supreme Court, dem höchsten irischen Gericht,
von staatlicher Seite damit gedroht wurde, dass sämtliche Gerichtskosten
gegenüber den Klägern geltend gemacht werden würden, falls diese ihre
Klagen nicht endgültig fallen ließen.
Die Klägerin ließ sich hiervon jedoch glücklicherweise nicht
abschrecken, rief stattdessen den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte an und bekam – nach einem insgesamt 15 Jahre andauernden
Rechtsstreit – von diesem die Bestätigung, dass sie unmenschliche und
entwürdigende Behandlung erlitten habe und angesichts des Verhaltens des
irischen Staates der Möglichkeit beraubt worden sei, sich Recht zu
verschaffen. Daher habe die Klägerin einen Anspruch auf Genugtuung und sei
zu entschädigen, so der Gerichtshof.
Insbesondere stellte der Gerichtshof in seinem Urteil ausdrücklich fest,
dass der Staat die Verantwortung dafür trage, dass alle Kinder in ALLEN
Schulen vor Missbrauch und vergleichbaren Übergriffen geschützt werden
und dass Mechanismen bestehen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen
zu können.
Was zunächst wie eine Selbstverständlichkeit klingt, entpuppt sich bei
genauerer Betrachtung als Aussage mit weitreichenden Konsequenzen.
Vereinfacht ausgedrückt, verdeutlichte der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte mit diesem Ansatz erstmals seine Auffassung, dass ein Staat
sich seiner staatlichen Schutzpflichten nicht dadurch „entledigen“
kann, indem er typischerweise staatliche Aufgabenbereiche auf kirchliche
oder private Einrichtungen überträgt.
Das heißt konkret, dass ein Staat auch für den Schutz von Schülern in
kirchlichen oder allgemein religiösen sowie in privaten Einrichtungen
verantwortlich ist und dementsprechend beim Auftreten von sexuellen
Übergriffen auf Schüler haftbar gemacht werden kann, wenn sich
herausstellt, dass diese Schutzpflichten nicht oder nicht ausreichend
eingehalten oder gar ignoriert worden sind.
Diese Aussage des Gerichtshofs wird künftig auch durch die Gerichte in
anderen Staaten Berücksichtigung zu finden haben, welche die Europäische
Menschenrechtskonvention ratifiziert haben, somit auch in Deutschland.
Bedeutung kann dies in Deutschland vor allem in all jenen Fällen erlangen,
in welchen der Staat - nachweislich - „sehenden Auges“ seiner
Verantwortung zum Schutz Minderjähriger vor sexuellen oder sonstigen
Übergriffen nicht in ausreichender Weise nachgekommen ist, etwa trotz
Kenntnis von aufgetretenen Missbrauchsfällen in Heimen, Schulen oder
sonstigen Einrichtungen, unabhängig von deren Trägerorganisation und
Ausgestaltung.
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahr 2004 („Fall Görgülü“) die
Pflicht der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit zur Berücksichtigung der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
festgestellt.
Es besteht somit durchaus Hoffnung auf eine künftig
betroffenenfreundlichere Rechtsprechung als in der Vergangenheit, auch wenn
der (Rechts-)Weg bis zur Durchsetzung von Opferrechten nach wie vor lang
und steinig bleiben wird.
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