Die Tagung des Dr. Jekyll
netzwerkB Pressemitteilung vom 7. Dezember 2014:
http://netzwerkb.org/2014/12/07/die-tagung-des-dr-jekyll/
In Berlin treffen sich Bildungshistoriker, um über die Reformpädagogik nach der Odenwaldschule zu räsonieren. Weder über Missbrauch noch über Wyneken noch über Nähe wird geredet
Unter dem Titel "Reformpädagogik und Reformpädagogik-Rezeption in neuer Sicht" findet eine Tagung der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) in Berlin am Mittwoch/Donnerstag, 10./11. Dezember 2014, statt.
netzwerkB hat bei der Leitung und Organisation der Tagung mit Schreiben vom 29. November 2014 wie folgt nachgefragt:
"Teilen Sie uns bitte mit, wer zum Thema "pädagogischer Eros und Reformpädagogik" sowie zur "Geschichte der Odenwaldschule und Missbrauch" sprechen wird. Gibt es dazu ein Forum?"
Ein Antwort hat netzwerkB bis heute nicht erhalten.
Die Tagung des Dr. Jekyll
Von Christian Füller
Die Reformpädagogik ist von jeher eine Pädagogik der schönen Rede. Die wohl größte Tradition, welche die Zunft entwickelt hat, ist die der horriblen Beschreibung der herrschenden Schule – der Presse, Anstalt, Paukschule und welche Begriffe da immer erfunden wurden. Dieser Karikatur der schwarzen Staats-Pädagogik stellen Reformpädagogen gerne die rosaroten Schilderungen ihrer achtsamen Schulen entgegen, die – angeblich – kein Kind beschämen.
Dabei ist es so, dass die Schönrederei vielleicht einen ganz anderen Zweck hat: Sie soll etwas Dunkles und Unheimliches verdecken. Nehmen wir Gustav Wyneken, einen der wichtigen Ahnherrn der deutschen Reformpädagogik genau wie der demokratischen Schule. Er gaukelte der reformpädagogischen Gemeinde viele Jahre lang vor, er sei ein Schulreformer und pädagogischer Demokrat. In Wahrheit verfolgte er wohl ganz andere Ziele – sexuellen Missbrauch von Kindern. Die Szene wusste davon, immerhin wurde Wyneken rechtskräftig verurteilt. Aber die Bildungshistoriker erzählen beinahe seit 90 Jahren von Wyneken nur die Geschichte des guten Dr. Jekyll, der Schüler als Demokraten auf Augenhöhe sieht. Und sie verschweigen konsequent den Mr. Hyde in Wyneken, der rücksichtlos über Kinder hinwegtrampelte.
Fast mutet es an wie die Spezialität deutscher Bildungsreformer – sie sind großartige Schönredner. Die Indizien für Verherrlichung reichen von heute bis weit in die Vergangenheit.
David Hamilton der Schulfilmerei
Das Unwesen der utopischen Denkschriften ist seit Humboldts genialem, aber nie verwirklichtem Königsberger Schulplan von 1809 ungebrochen. Sie hat in unserer Zeit mit dem so genannten „Archiv der Zukunft“ sogar ein neues Genre geboren: Den Film vom gelingenden Lernen. Sein Autor ist Reinhard Kahl, ein eloquenter Doku-Filmer, der seine Lieblingsschulen stets in ein mildes Licht taucht. Kahl ist so etwas wie der David Hamilton der Schulfilmerei. Besucht man seine – wie er sie nennt - „Treibhäuser“ aber in echt, dann ist die Differenz zwischen Schein und Sein nicht selten riesig.
Precht war nie an der Schule, die er bejubelt
Zu den Apologeten des neuen Lernens gehört neuerdings Richard David Precht. Der Erfolgsautor hat mit „Anna, die Schule und der liebe Gott“ ein Buch verfasst, dessen Beispiele zu denken geben. Im doppelten Sinne. Precht preist etwa das jahrgangsübergreifende Lernen der Jenaplanaschule in Jena und ihren Erfinder Peter Petersen in den höchsten Tönen. Die bittere Wahrheit aber ist, erstens, dass diese Schule seit Jahren eine schwere Krise durchläuft. Und zweitens, dass Precht selber nie da war. Er hat sein Wissen abgeschaut – bei einem über 10 Jahre alten Film von Reinhard Kahl. Die freundlichen Jenaplaner haben Precht übrigens zu sich eingeladen. Der Philosoph hat nicht einmal geantwortet: Wozu auch die kritische Realität begutachten, wenn man im Fernsehen faktenbefreit das Prinzip bejubeln kann?
Der Held der schönen Rede – ein Vergewaltiger
Der unumstrittene Held der schönen Rede auf die Reformpädagogik war Gerold Becker. In der Szene galt der Theologe, der viele Jahre die berühmte Odenwaldschule Oberhambach leitete, als ein kleiner Messias. „Niemand konnte die Reformpädagogik so schön erklären wie Gerold Becker“, pflegten die Pädagogen zu schwärmen, die sich in den elitären Kreisen der AG Schulreform versammelten.
Dass Becker reformpädagogische Märchen erzählt hat, war freilich nicht das größte Verbrechen des Gerold Becker, wie heute jeder weiß. 2010 wurde bekannt, dass er in seiner Amtszeit an der Odenwaldschule ein gruseliges System sexuellen Missbrauchs eingerichtet hat. Sechs pädosexuelle Lehrer suchten sich gezielt die hübschesten (und wehrlosesten) Jungen von 11 bis 14 Jahren, um sie in ihre Wohnungen zu lotsen. Ein Untersuchungsbericht nennt 125 Opfer, allein Gerold Becker, der Schulleiter, habe demnach 86 Jungen schwer missbraucht, auch durch Vergewaltigung. Auf dem Nachttisch Beckers soll stets griffbereit eine Dose Vaseline gestanden haben.
Der Gerold „steht auf Jungs“
„Wie solltest Du Dich wehren“, sagte ein Schüler im Rückblick, „am Nachmittag hast du ihn im Fernsehen gesehen, wie er die Laudatio auf Astrid Lindgren hält. Am nächsten Morgen stand er bei dir in der Dusche und wollte deinen Schwanz schamponieren. Niemand hätte uns geglaubt!“ Der Schüler hat recht. Mehrere Versuche, das Unsagbare zu enthüllen, scheiterten an einer weit gespannten Täterlobby in der Schule und um sie herum. Die deutschen Edel-Reformpädagogen wussten zwar reihenweise, „dass der Gerold auf kleine Jungs stand“, aber sie kapierten angeblich nicht, was das bedeutet.
Die Odenwaldschule hat diese Verbrechen zugelassen. Erst jetzt, im Jahr 2014, wird eine offizielle Untersuchungskommission gebildet, die dem Verrat an den Schülern und den Verbindungen bis in die höchsten Kreise nachgehen will. Gerold Becker war von 1972 an Schulleiter, 1985 musste er die Schule verlassen.
Der Sündenfall der Reformpädagogik
Dabei liegt der eigentliche Sündenfall der Reformpädagogik viel früher, nämlich im Jahr 1919. Da steht einer der wichtigsten deutschen Schulreformer vor Gericht. Die Episode erklärt beides, die Brutalität und die Verlogenheit einer Pädagogik, die die „Nähe zum Kind“ stets als Idee und Handlungsleitung begriffen hat. Der Mann heißt Gustav Wyneken, er ist promovierter Theologe und Philosoph und Leiter der so genannten „Freien Schulgemeinde Wickersdorf“. Er wird beschuldigt, zwei Schüler sexuell missbraucht zu haben. Bei einer Klassenfahrt bat er seine Lieblinge zu sich ins Hotelzimmer, befahl ihnen, sich auszuziehen und zu ihm ins Bett zu steigen. Dort hatte er vorsichtshalber schon ein Handtuch untergelegt.
Um es vorwegzunehmen, Wyneken wurde bestraft, das Urteil in einer zweiten Verhandlung bestätigt. Das Gericht verurteilte den Bürger Wyneken rechtskräftig zu eineinhalb Jahren Gefängnis wegen Unzucht mit Schutzbefohlenen.
Nicht Drüsensekrete, sondern etwas Weihevolles
Die kriminelle Energie des rastlosen Schulreformers ist erstaunlich – aber mehr noch seine Chuzpe. Wyneken entschuldigte sich nicht, sondern er verfasste für den Prozess ein Pamphlet mit dem bezeichnenden Namen „Eros“. Schulen seien erst dann wirklich gut, heißt es darin, wenn die Schüler dort nackt lernen und ihrer Körper erkunden könnten. In dem Fall mit den beiden Schülern, der zur Verhandlung stehe, sei es nicht „um irgendwelche Drüsensekrete“ gegangen, sondern um etwas Höheres, Weihevolles. Wyneken schrieb: „Wir reden hier von einer Form der Liebe in jenem Sinn, den wir durch den griechischen Begriff des Eros vorläufig einmal kennzeichnen.“
Man muss kurz innehalten. Ein Schulleiter, der mit zwei Schülern Schenkelverkehr nach griechischem Vorbild betrieben hatte, rechtfertigt seine Handlung als pädagogische Glanztat. Mehr noch, er bastelt daraus eine neue Pädagogik für neue, am besten nackte Menschen.
Das für die Reformpädagogik Bemerkenswerte ist nun dies: In die Geschichte ging Gustav Wyneken nicht etwa als Sexualverbrecher ein. Wynekens Ruf blieb ungetrübt, sein Verbrechen wurde von den Pädagogen einfach verschwiegen. Stattdessen feiern ihn Bildungshistoriker, Betprofessoren der Reformpädagogik und die Gemeinde der Schulreformer – bis heute! - als einen der wichtigsten ihrer Zunft, als den eloquentesten und radikalsten. Wyneken habe die demokratische Schule, bei der Schüler und Lehrer sich auf Augenhöhe begegneten, erst erfunden. Der Päderast als Heilsbringer des neuen Lernens.
„Bei Wyneken tritt das Humanum am reinsten hervor“
Das Handbuch der deutschen Reformbewegungen rühmt Wynekens großen Einfluss vom Kaiserreich bis in die junge Bundesrepublik. Er habe die patriarchale Struktur der reformpädagogischen Landerziehungsheime verändert – und „damit das Vorbild für ähnliche Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmodelle innerhalb und außerhalb“ der Bewegung geliefert.
Das Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung feiert ihn immer wieder Schulreformer und Jugendbewegten. Zu Recht sei er der einzige Reformpädagoge seiner Zeit, der „aus der allgemeinen Nichtbeachtung herausgehoben“ gewirkt habe. Das hohe Ideal Wynekens habe darin bestanden, die Jugend als jene Phase des Menschseins definierte, in der das Humanum am reinsten hervortrete. Selbst Walter Laqueur würdigt Wyneken als genialen Erzieher, „der unter anderen Bedingungen vielleicht eine
Revolution im deutschen Erziehungswesen hätte hervorrufen können.“
Missbrauch „in diesem Zusammenhang unerheblich“
Wie erklärt er seinen Lesern, dass sein Idol wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt wurde? Wyneken sei mit „den örtlichen Behörden“ in Konflikt geraten, schreibt Laqueur. Er nennt sie „eine Episode, die in diesem Zusammenhang unerheblich ist“. Als wäre Kindesmissbrauchs für einen Lehrer eine Petitesse und nicht pädagogischer Hochverrat.
Wie Gustav Wyneken dachte, konnte indes lange bekannt sein. Erziehung ist Kampf, ist Vergewaltigung“ schrieb er im Jahr 1913 in den Jahrbüchern der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. Es gibt nur wenige, die immer sagten, dass Herr Wyneken in Wahrheit der Kindertrampler Mr. Hyde ist. Zu ihnen gehört Jürgen Oelkers, der nicht nur auf das Verbrechen und den Skandal hinweist, dass Wyneken seinen Übergriff pädagogisch als „inniges Liebesbündnis eines Führers mit seiner Jugend“ rechfertige. Oelkers problematisiert den engen systematischen Zusammenhang von Missbrauch und Erziehung, der durch Wyneken hergestellt worden ist. Seine pädagogischen Vorstellungen seien hingegen unentwickelt geblieben.
Der Ort des pädagogischen Eros
Wyneken war zentral für die Reformpädagogik der Landerziehungsheime. Seine Idee der Kameradschaft, einer gemischten Lehrer-Schüler-WG, wird als „Internatsfamilie“ in die Odenwaldschule importiert, wo sie ab den 1960er Jahren zu der beschriebenen Missbrauchs-Katastrophe führt. Weil pädokriminelle Lehrer die Familie genau als das begriffen, was Wyneken mit ihr bezweckt hatte: der ideale Ort des pädagogischen Eros, sprich des sexuellen Missbrauchs zu sein. Konsequenzen haben die Landerziehungsheime
bisher daraus nicht gezogen.
Wenn man diese Vorgeschichte kennt, wundert man sich nicht mehr, mit welchem Nachdruck Reformpädagogen bis zum heutigen Tage sexuelle Gewalt als „pädagogischen Eros“ rechtfertigen. Nicht jeder Reformpädagoge ist deswegen ein Päderast. Aber die Zunft sollte nach mehreren schweren Unfällen ihrer „Nähe zum Kind“ langsam nachdenken, auf welch` fragwürdigen Fundamenten sie errichtet wurde. Sie hat mit dem bewussten Einreißen der emotionalen Schranken zwischen Lehrer und Schüler dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Aber sie verleugnet seit 100 Jahren,
dass zu ihren Besten fanatische Päderasten zählen.
Missbrauch konzeptionell in Reformpädagogik eingebaut
Sexualisierte Gewalt ist konzeptionell in die reformpädagogische Ideologie eingebaut. Unter anderem deswegen, weil die Lernreformer asymetrische Machtverhältnisse zu Schülern als angeblich gleichberechtigte tarnen. Eine solche Pädagogik kann nicht beanspruchen, die Alternative zu einem herrschenden Schulsystem zu formulieren. Da reicht der Verweis auf die Modernität von Epochenunterricht, Projektarbeit, individuellem Lernen, Beziehung zum Kind und anderen reformpädagogischen Preziosen nicht aus.
Für einen Barmann, der Alkoholiker ist, hebt man das Berufsverbot auch nicht auf, nur weil er gute Cocktails mixen kann.
Nun findet in Berlin eine Tagung statt, die aktuelle Debatten um die Odenwaldschule zum Anlass hat. Nicht zuletzt aufgrund des
Missbrauch-Skandals würden inzwischen sogar „pädagogische Reformen ohne Reformpädagogik“ (Miller/Oelkers) als Alternative vorgeschlagen, heißt es. Zwei der Veranstalter stören sich an der Debatte in den Massenmedien. „Reformpädagogik wird hier mit dem Missbrauch von Schülerinnen und Schülern durch Lehrer und Erzieher, mit der Unfähigkeit, sexuelle Gewalt in pädagogischen Beziehungen wahrzunehmen und ihr vehement entgegenzutreten, identifiziert.“ Dem aber liege „ein sehr verkürztes und vor allem ahistorisches Verständnis von dem zugrunde, was um die vorletzte Jahrhundertwende als 'reformpädagogische Bewegung' erschien.“
Da werden Erinnerungen wach. Kurz nach der Katastrophe im Odenwald im Jahr 2010 gab es eine Tagung des „Blick über den Zaun“, in dem sich reformpädagogische Schulen sammeln. Dort hielt die hohe Schulbeamtin Cornelia von Ilsemann eine Rede auf die Leistungen der Reformpädagogik. Unter anderem lobte sie Gerold Becker als entschiedenen Schulreformer. Dass er – wie wenige Wochen vorher bekannt geworden war - jahrelang Kinder missbraucht hatte, erwähnte sie mit keinem Wort. „Das war ja nicht mein
Thema. Ich sollte über Reformpädagogik heute sprechen", sagte diehöchste reformpädagogische Schulbeamtin dazu.
Die Tagung veranstaltet Dr. Jekyll
Auch das Berliner Tagungsprogramm am Mittwoch und Donnerstag weist kein eigenes Forum, nicht mal einen eigenen Vortrag zu den Themen Missbrauch und Reformpädagogik, Neubewertung Gustav Wynekens oder Fragen von Nähe und Distanz oder Schülerdemokratie nach dem Fall der demokratischsten deutschen Schule auf.
Die reformpädagogischen Tagungen, so scheint es, werden weiter von Dr.
Jekyll organisiert.
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Weiterführende Informationen:
http://netzwerkb.org/wp-content/uploads/2014/12/ProgrammTagungReformpaedagogik20140712webx.pdf
http://netzwerkb.org/wp-content/uploads/2014/12/Bibliothek-für-Bildungsgeschichtliche-Forschung_28.11.2014.pdf
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Für Rückfragen:
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