Aufarbeitung ohne gesetzliche Grundlage
Offener Brief an den ‘Unabhängigen Beauftragten für Fragen des
sexuellen Kindesmissbrauchs’, Johannes-Wilhelm Rörig
http://netzwerkb.org/2015/07/21/aufarbeitung-ohne-gesetzliche-grundlage/
Sehr geehrter Herr Rörig,
in Ihrer Pressemitteilung Nr. 12 vom 02.07.2015 geben Sie bekannt, dass ab
2016 eine ‘Unabhängige Aufarbeitungskommission’ Verbrechen von
sexualisierter Gewalt an Kindern aufarbeiten soll. Deutschland setze damit
international bei der Aufarbeitung neue Akzente.
Ziele der Aufarbeitungskommission seien: Anerkennung des Unrechts, besseres
Verständnis des Themenkomplexes und der Folgen in der Gesellschaft und
letztendlich bessere Prävention.
Der Begriff „Aufarbeitungskommission“ – wenn man historischen
Beispielen, u.a. Südafrika folgen möchte- involviert unbedingt Täter und
Opfer.
‚Aufarbeitung‘ weckt große Hoffnung bei Betroffenen, die tagtäglich
unter der Last der erlebten Gewalt und deren Folgen (nicht zuletzt auch in
Form von materieller Not für viele) zu leben versuchen.
‚Aufarbeitung‘ impliziert für Betroffene, dass
- Täter/Täterinnen gestoppt werden und dass
- Opfern endlich geholfen wird, das Trauma zu bewältigen, dass gutgemacht
wird, was wieder gut zu machen ist und dass sie aufgefangen und
unterstützt, und nicht wieder allein gelassen werden.
Die ‚Aufarbeitung‘ die in Deutschland nun geplant ist unterscheidet
sich von den historischen Vorgängern darin, dass sie keine Täter
involviert. Und zudem gibt „es keine gesetzliche Grundlage“ für die
Arbeit der Kommission.
Das hier vorgestellte Vorhaben spricht nicht von Soforthilfe für die
Opfer, spricht nicht vom Stoppen der Täter und Täterinnen, sondern es
spricht von Forschung zu dem Zweck, irgendwann, vielleicht mal helfen zu
können. Und das ist der staatliche Standpunkt und Beitrag.
Herr Rörig,
- Wie wollen Sie die Verbrechen erfassen ohne rechtliche Grundlage, die
Akteneinsicht und Vorladungsrechte gewähren würde, um so die Täterseite
zu beleuchten?
- Wie wollen Sie dann geeignete Strategien zur Prävention erarbeiten?
- Haben wir es hier nur mit einer semantischen Ungenauigkeit zu tun? (Wie
oben aufgeführt beinhaltet Aufarbeitung mehr als Ihrer Kommission möglich
sein wird.) Wenn ja, müsste diese korrigiert werden, um keine falschen
Hoffnungen bei Opfern zu erwecken.
- Wenn aber diese Kommission wieder nur eine ‚Anhörung‘ von Opfern ist
– wobei ‚Anhörung‘ ein Machtgefälle beinhaltet mit dem Anhörenden
in der Position des gefälligen Machtinhabers – wie rechtfertigen Sie
dann die geplante Ausgabe von 3 Millionen Euro im Jahr, während die
wirtschaftliche Not unter Betroffenen sehr oft extrem hoch ist?
- Wie antworten Sie auf den Vorwurf, dass eine weitere individuelle
Anhörung bei bestehendem Täterschutz durch bestehen bleibende
Verjährungsfristen nun wieder etwas Verhöhnendes hat?
- In der Pressemitteilung sprechen Sie von dem Ziel ‚gesellschaftlicher
Anerkennung des Leids der Opfer‘. Wenn diese ‚Anerkennung‘ aber keine
Entschädigung mit sich bringt, bleiben viele Opfer weiterhin an der
Teilhabe an eben dieser Gesellschaft ausgeschlossen. Wie rechtfertigen Sie
das den Opfern gegenüber?
- Mangelt es nach Ihrem Dafürhalten an politischem Willen, eine echte
Aufarbeitung durchzuführen? Wenn ja, wie können Sie es rechtfertigen sich
selbst und ihre Institution daran zu beteiligen?
- Der Hilfsfond läuft eher schleppend und erniedrigend – mit
Bearbeitungszeiten von einem Jahr, langen Befragungsbögen die von vielen
als re-traumatisierend empfunden werden, und vielen Ablehnungen obwohl das
Angefragte notwendig ist. Wie wollen Sie Opfern gegenüber die Ausgabe von
Geldern rechtfertigen für eine Wahrheitskommission, die mit ihren
strukturellen Schwächen nichts aufarbeiten kann?
- Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, dass Opfer wieder einmal nur
‚Forschungsobjekt‘ sind, mit denen andere ihre Karrieren vorantreiben,
bzw. Geld verdienen?
- Wie antworten Sie den Opfern, die sich durch eine weitere individuelle
Anhörung bei bestehendem Täterschutz und bestehen bleibenden
Verjährungsfristen nur verhöhnt vorkommen?
- Was sagen Sie zu dem netzwerkB Mitglied, das uns folgendes geschrieben
hat (eine unter vielen derartigen Zuschriften):
"Die meisten Bauschmerzen haben mir beim Lesen des Artikels die sieben
Kommissionsmitglieder verursacht, für die jährlich 3 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt werden. Wieder Menschen, die sich an unseren
Schicksalen bereichern. Die Betroffenen dürfen als Gast dabei sein. Ein
Gast bekommt keine finanzielle Entschädigung!
3 Millionen Euro Verschwendung für neue Papiere, die keinen interessieren.
Und jeder Einzelne von uns quält sich weiterhin mit mehr oder weniger
Erfolg durch das demütigende Opferentschädigungsgesetz mit seinen
systematischen Abwehrmechanismen, um nach vielen Jahren Rechtsstreit und
extrem belastenden Begutachtungen eine Almosenrente von unter 200 Euro zu
bekommen. Soweit wir durchhalten und nicht aufgeben oder vorher sterben….
Das ist es was mich am allermeisten schmerzt: Die Menschen, die MIT und
DURCH UNS Geld verdienen – Beamte, Gerichte, Gutachter, Wissenschaftler,
Ärzte, Psychiater, Pharmakologen und jetzt noch eine sinnlose Kommission
für drei Jahre im Gegenwert von 9 Millionen Euro!
Wieviel echtes, alltägliches Leid in unseren Reihen könnte man damit
direkt und konkret mildern… Bitte an Herrn Röhrig weiterleiten.
Danke!”
Sehr geehrter Herr Rörig, wir bitten Sie um eine öffentliche
Stellungnahme.
Ihr netzwerkB Team
-
Für Rückfragen:
netzwerkB – Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt e.V.
Telefon: +49 (0)4503 892782 oder +49 (0)160 2131313
presse@netzwerkb.org
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